Kaliningrad, das frühere Königsberg, blickt auf eine mehr als 750-jährige Stadtgeschichte zurück. Es war die Keimzelle Preußens und bis 1945 eines seiner geistigen Zentren. Seitdem ist es die Hauptstadt der Kaliningrader Oblast, der Exklave zwischen Polen und Litauen. In diesem Gebiet treffen auf einzigartige Weise deutsche Vergangenheit und russische Gegenwart aufeinander.
Der Ort, der heute so nüchtern pl. Central’naja heißt, markiert den Ursprung des späteren Königreichs Preußen und damit des Deutschen Reichs. Denn das Herzogtum Preußen, ohne das kein Königreich Preußen entstanden wäre, hätte sich nicht ohne den Staat der Deutschritter bilden können. Mitte des 13. Jahrhunderts erhob sich auf dem Hügel am Nordrand der Pregelniederung eine pruzzische Fliehburg, Tuwangste geheißen. Der Deutsche Orden, der während dieser Zeit versuchte, das Samland zu erobern, besaß zu wenige eigene Soldaten, so dass fremde Heere ihn unterstützen mussten. König Ottokar II. von Böhmen nahm an diesem Samland-Kreuzzug teil.
Die Pruzzenburg konnte bald erobert werden, und man errichtete auf ihren Fundamenten eine neue Burg. König Ottokar zu Ehren wurde sie »Königsberg« genannt. Erst gegen 1290 war der Ausbau der Burg fertiggestellt, nun in Stein. Zuvor war sie ein – wenn auch sehr stark befestigtes – Holzbauwerk gewesen. Die neue Anlage stellte ein langgestrecktes Rechteck um einen 105 Meter langen und 67 Meter breiten Hof dar und bedeckte den ganzen Hügel Tuwangste. Die Burg war Sammelplatz der Ordensritter, bevor sie zu ihren Fahrten aufbrachen, Sitz eines Ordenskomturs, und nach 1309, als der Sitz des Hochmeisters von Venedig auf die Marienburg verlegt wurde, auch Sitz des Ordensmarschalls.
Blutgericht und Silberschätze
In der Folge war die Burg unzähligen Umbauten unterworfen, insbesondere nach 1457, als sie zum Sitz des Hochmeisters wurde. Der siebeneckige Haberturm von 1275 an der Nordostecke blieb aber über die Jahrhunderte unverändert erhalten. Der Bergfried, der spätere Schlossturm, war freistehend innerhalb der Umfassungsmauern aufgerichtet worden. Im Keller des Nordflügels wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts das »hochnotpeinliche« Halsgericht untergebracht. Nach 1732 richtete die zugewanderte Salzburger Familie Schindelmeißer dort eine Weinhandlung ein, aus der später die weltberühmte Gaststätte »Blutgericht« hervorging.
Seine Form, die bis zur Zerstörung unverändert blieb, erhielt der Bau weitgehend in der Renaissancezeit: Herzog Albrecht und seine Nachfolger machten aus der gotischen Wehrburg nach 1525 ein prachtvolles Renaissanceschloss. Die lange Südfront, die bis auf Wehrmauer und Türme unbebaut geblieben war, wurde jetzt geschlossen. Der Ostflügel entstand neu, das Konventshaus aus der Ordenszeit wurde abgebrochen, und der Baumeister, Blasius Berwarth, erbaute an seiner Stelle 1584 den Westflügel mit Schlosskirche und darüberliegendem Moskowitersaal. Dieser war bis 1945 mit Ausmaßen von 83 mal 18 Metern der größte Saal Deutschlands; 3000 Personen fanden hier Platz. Seinen Namen erhielt er nach Zar Peter dem Großen, der in Königsberg zwischen 1711 und 1713 mehrmals Gast war. Blasius Berwarth schuf auch im Nordostteil den stattlichen Portalbau. In einem Anbau an der Schlosskirche wurde die »Silberbibliothek« des Herzogs Albrecht untergebracht: 20 in getriebenes Silber gebundene geistliche Bücher, darunter eine prachtvolle Lutherbibel. Sie sind seit 1945 verschollen.
Ein erneuter Umbau erfolgte ab 1701. Der prunkliebende Kurfürst Friedrich III. hatte sich in diesem Jahr in der Schlosskirche zum ersten preußischen König erhoben. Er hielt weder das Schloss noch dessen Umgebung einer königlichen Residenz für würdig. Der Baumeister Schultheiß von Unfried sollte dem Schloss ein neues Antlitz geben. Die Schlosskirche wurde bis 1710, nach ihrer Erhebung zur Krönungskirche, mit Empore, Kanzelaltar und königlicher Loge umgebaut. Später fand aber nur noch eine Krönung hier statt. Den preußischen Herrschern war der Pomp einer Krönungszeremonie schlichtweg zu teuer, so dass sie darauf verzichteten. In Berwarths Portalbau wurden die Prunkräume des Königs eingerichtet. Die weiteren Planungen wurden nicht mehr realisiert. Nach dem Tod König Friedrichs I. im Jahr 1713 untersagte dessen sparsamer Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm I. den Weiterbau.
Vom Repräsentationsbau zum Museum
Unter Friedrich Wilhelm I. und seinen Nachfolgern diente das Schloss nun weniger dem Prunk und der Repräsentation, sondern wurde Dienstsitz verschiedener Staatsbehörden. So waren hier die Kriegs- und Domänenkammer, das Oberste Tribunal und das Konsistorium untergebracht. Und auch die Regierungspräsidenten hatten hier ihren Amtssitz. Heute noch erstaunlich ist, dass der russische Gouverneur Baron Korff während der Besatzung der Stadt im Siebenjährigen Krieg den nicht vollendeten südlichen Unfriedflügel mit russischen Geldern fertigstellen ließ.
1810 fand ein weiterer Umbau statt, als das Oberlandesgericht an der Nordfront einen Neubau bekam; als vorläufig letzte Baumaßnahme erhielt der Schlossturm 1866 eine neugotische Spitze. Im 20. Jahrhundert wurde im Süd- und Ostflügel die Prussia-Sammlung präsentiert, die sich mit der Vorgeschichte und Volkskunde Ostpreußens befasste. Im Obergeschoss war eine umfangreiche Lovis-Corinth-Sammlung untergebracht, die Städtischen Kunstsammlungen zogen ein, und das Bernsteinzimmer fand nach 1941 hier seinen letzten nachgewiesenen Standort. So war das Schloss den Weg vom Wehrbau zur Residenz, zur Verwaltungszentrale und schließlich zum Kulturbau gegangen. In den verschiedenen architektonischen Einheiten des Schlosses spiegelten sich dabei die fast 700 Jahre preußischer Geschichte wider.
Das Schloss brannte bis auf das Erdgeschoss des Südflügels 1944 aus, die Sammlungen wurden teilweise vernichtet, teilweise als »Beutekunst« verschleppt. Heute erinnert nichts mehr an das für die preußische und deutsche Geschichte so bedeutende Bauwerk. Und außerhalb Kaliningrads, vor allem bei uns, ist auch jedes Wissen um dieses großartige Bauwerk verschwunden.
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer KALININGRAD – KÖNIGSBERG von Gunnar Strunz.
KALININGRAD – KÖNIGSBERG
Mit Bernsteinküste, Kurischer Nehrung, Samland und Memelland
4., vollkommen überarbeitete Auflage 2022
504 Seiten
ISBN 978-3-89794-491-6
21,95 €
Im Trescher Verlag sind zahlreiche weitere Reiseführer zu Städten, Regionen und Ländern in OSTEUROPA erschienen.