Die Simmentäler und das Saanenland sind ein Tipp für alle, die beeindruckende Bergpanoramen mit weniger Trubel suchen. In der Region machen viele Schweizer und Stammgäste Urlaub, die Restaurants sind bodenständiger und die Bergbahnen nicht gar so teuer wie in der Jungfrauregion. Von Adelboden im Engstligental ist es nicht weit ins Kandertal mit den größeren Orten Reichenbach, Frutigen und Kandersteg. Bei Reichenbach zweigt noch das kleine, wenig bekannte Kiental ab – ein echter Geheimtipp für Naturverbundene.
Von Spiez am Thunersee führt die Straße ins Kandertal zunächst an Mülenen vorbei, wo die Zahnradbahn auf den Niesen startet, und dann weiter nach Reichenbach im Kandertal. Das eigentlich historische Dorf Reichenbach ist heute wegen der guten Verkehrsanbindungen eher von industrieller Infrastruktur und pendlerfreundlichen Eigenheimen geprägt. Von Reichenbach zweigt das hochgelegene und bisher noch recht einsame Kiental ab. Im Tal bei Reichenbach und Kien führt der Reichenbacher Häuserweg, ein leichter Spazierweg, auf Entdeckungstour zu den traditionellen Holzhäusern der Region. Eine Papierbroschüre dazu gibt es in der Touristeninformation oder online.
Frutigen
Der nächste größere Ort im Tal ist Frutigen, dessen Ortskern oberhalb der Eisenbahnlinie und der gut ausgebauten Nationalstraße liegt. Somit kombiniert Frutigen Alpenpanorama und Naturnähe mit einer guten Infrastruktur und Erreichbarkeit der Jungfrauregion mit Thuner- und Brienzersee.
Seit 2009 gibt es in Frutigen eine Störzucht: Beim Bau des 2007 fertiggestellten Lötschberg-Basistunnels von Kandersteg nach Goppenstein (Kanton Wallis) trat durch den hohen Druck auf etwa 18 Grad erwärmtes Wasser aus. Das warme Wasser konnte nicht in den Fluss Engstlige geleitet werden, da die dort lebenden Forellen kühles Wasser bevorzugen. Stattdessen wurde in Frutigen ein Zentrum zur Aufzucht von Stören gegründet, um das warme Wasser nachhaltig zu nutzen. Die Produkte aus der Störproduktion wie Störfilet und Kaviar kann man online kaufen. Mit der überschüssigen Wärme werden außerdem große Gewächshäuser beheizt, die im Industriegebiet neben der Umgehungsstraße markant zu sehen sind. In Frutigen zweigt das Engstligental mit dem Hauptort Adelboden ab.
Mitholz und Blausee
Hinter Frutigen wird die Talsohle schmaler, und die Berge rücken näher heran. Nach zwölf Kilometern zweigt rechts eine Stichstraße zum wunderbar klaren und tatsächlich tiefblauen Blausee ab. Der große Parkplatz weist schon darauf hin, dass der Blausee ein beliebtes Ausflugsziel ist, mit Hotel, Restaurant und Forellenzucht. Baden darf (und möchte) man in dem eiskalten Bergwasser nicht, aber im Winter wird dort wegen des klaren Wassers getaucht.
Die Bahnstrecke windet sich gleich hinter dem Blausee in einer weiten Schleife um den kleinen Ort Mitholz, um Höhe für die nächste Talstufe zu gewinnen. In großen Tunnelanlagen neben dem Ort wurde im Zweiten Weltkrieg Munition gelagert. Mitholz selbst soll deshalb in den nächsten Jahren evakuiert werden.
Seit 2018 häufen sich außerdem Skandale über illegale Deponien von giftigem Bauschutt im Steinbruch bei Mitholz, etwa aus der Tunnelsanierung des Lötschberg-Scheiteltunnels. Als in der Forellenzucht am Blausee viele Fische starben, wurden die Behörden misstrauisch und forschten nach.
Kandersteg
Zweihundert Meter höher und sechs Kilometer weiter wird das Tal beim Hauptort Kandersteg wieder breiter. Kandersteg selbst ist ein langgezogenes Straßendorf. Logistisch ist Kandersteg seit 1960 bedeutend, wegen des fahrplanmäßigen Autoverlads für den Lötschbergtunnel. Autos auf dem Weg ins Wallis beziehungsweise nach Italien fahren an der Verladestation am Bahnhof Kandersteg von der Straße direkt auf die Zugwaggons. Die Insassen bleiben während der etwa 15-minütigen Fahrt im Auto sitzen, Tickets können bequem online gebucht werden.
Der Lötschbergtunnel schuf schon 1913 eine Nord-Süd-Verbindung zwischen dem Berner Oberland und dem Rhonetal beziehungsweise Italien. Und mit der Zugverbindung in den Süden kamen auch die Touristen. So wurden viele der heutigen Hotels, wie das Belle-Époque-Hotel Victoria, in dieser Zeit gebaut. In Retroveranstaltungen lässt man das historische Erbe der Belle Époque in Kandersteg regelmäßig wiederaufleben.
Trotz der vielen internationalen Gäste bewahrt Kandersteg ein einigermaßen alpines und dörfliches Ambiente mit vielen Häusern im Chaletstil und nicht so großen Hotelklötzen.
Am nördlichen Ortsrand lohnen die Museen im neuen modernen Museumskomplex nicht nur bei Schlechtwetter einen Besuch. Das Ortsmuseum im Erdgeschoss präsentiert die Region auf lebendige Weise mit zahlreichen Filmen und lebensgroßen Puppen. Die gemütlich-schaurigen Fasnachtsbräuche etwa mit einem zotteligen »Kinderfresser« oder die Heimarbeit früherer Jahrhunderte, bei der ganze Familien kleine Spanschachteln, sogenannte Trücklen, für Streichhölzer herstellten.
Ein Bereich informiert zur großen Pfadfindertradition im Kandertal: Das Kandersteg International Scout Center wurde schon 1923 von Lord Baden-Powell, dem Gründer der Pfadfinderbewegung, eröffnet.
Richtig vergnüglich wird es im Seilbahnmuseum im Obergeschoss. Hier sind historische Seilbahnkabinen und -sessel ausgestellt, darunter ungewöhnliche Exemplare wie eine Stehseilbahn aus einem Freibad oder Seilbahn-Minibusse vom Militär. Museumsgäste können eine Modellseilbahn bedienen und so die Seilbahntechnik, die auf Schaubildern erklärt wird, praktisch nachvollziehen.
Gleich hinter dem Museumskomplex sind die Sprungschanzen der Nordic Arena Kandersteg am Hang zu sehen. Auch im Sommer wird dort trainiert.
Oeschinensee
Durch die sozialen Medien ist der malerische Oeschinensee oberhalb von Kandersteg zu einem der bekanntesten Bergseen der Schweiz geworden. Er zählt unbestritten zu den schönsten Bergseen in den Alpen: Wunderbar blau liegt er auf fast 1600 Metern, eingerahmt von steilen Felswänden.
Eine Seilbahn führt von Kandersteg auf einen nur etwa anderthalb Kilometer vom Oeschinensee entfernten, etwa gleich hohen Bergabsatz. Von dort geht ein leichter Spaziergang auf breiten Wegen zum See; sogar einen Elektro-Shuttlebus gibt es. Der Fußweg vom Tal ist ebenfalls gut ausgebaut; die schmaleren Wege auf der Südseite des Sees sind wegen häufiger Bergstürze gesperrt.
Für bessere Ausblicke über den bekannten See empfiehlt sich die kleine Wanderung über den Heuberg zum Berghaus Oberbärgli mit Rückweg am Seeufer (von der Bergstation aus mit Abstieg nach Kandersteg zu Fuß knapp vier Stunden Gehzeit, etwa 500 Meter Anstieg, 1000 Meter Abstieg). In der Nähe der Bergstation gibt es außerdem auch eine kurze Sommerrodelbahn. An heißen Sommertagen ist es am Oeschinensee mittlerweile sehr voll. Wanderfreudige erreichen den Oeschinensee am eindrucksvollsten im Rahmen der im Folgenden beschriebenen Wanderung über die Blüemlisalp.
Wanderung auf der Via Alpina über die Blüemlisalp
Start: Griesalp (Postbushaltestelle)
Ziel: Kandersteg
Strecke: 17 km, 1450 m Anstieg, 1570 m Abstieg
Gehzeit: mind. 6 Std.
Die Tour ist hart, aber glorios. Nach der vergnüglichen Anfahrt im stämmigen Postbus geht es vom Hotel Griesalp durch den Wald, der morgens noch dämmrig und feucht ist, bergauf. Schließlich gelangt man auf eine grüne Wiese mit Blick auf das Blüemlisalp-Massiv, wie der Bergstock rund um das Blüemlisalphorn (3660 m) bezeichnet wird.
Der Wanderweg steigt nun recht steil den Hang hoch und führt durch Geröll in ein Schuttkar. Dort helfen Hunderte von hölzernen Treppenstufen, die Höhenmeter bis zum Hohtürli zu überwinden, dem schmalen Pass zwischen den Nebengipfeln Schwarzhorn und Wilder Frau. Gleich neben dem Pass steht als einzige Einkehrmöglichkeit weit und breit die Blüemlisalphütte auf 2836 m, mit großartigem Blick über den Blüemlisalpgletscher. Der Abstieg führt erst sanft aus dem Hochtal hinaus und wird dann über mehrere Bergstufen steiler. Am Berghaus Oberbärgli erreicht man die belebte Ausflugsregion rund um den Oeschinensee. Vom See aus gibt es die Möglichkeit, mit der Seilbahn 400 Höhenmeter abzukürzen, ansonsten geht es auf dem breiten Fußweg hinunter nach Kandersteg.
Das Kiental
Von Reichenbach im vorderen Kandertal fährt der Postbus hinauf bis zur Griesalp im hintersten Winkel des Kientals. Das hochgelegene, dünnbesiedelte Kiental besticht durch seine Einsamkeit und idyllische Landschaft unterhalb des Bergmassivs Blüemlisalp – ganz klar ein Geheimtipp für Abenteuerlustige. Das Tal setzt auf sanften Tourismus und Nachhaltigkeit, so nutzen viele Hotels ausschließlich regionale und saisonale Zutaten.
Eine bescheidene historische Bedeutung hat diese abgelegene Region durch die sogenannte Kiental-Konferenz 1916 erlangt. Das erste Sozialistentreffen in der Schweiz war mit hochrangigen Teilnehmern, unter anderem Lenin und Trotzki, der Höhepunkt der internationalen sozialistischen Bewegung während des Ersten Weltkriegs, bevor sich die verschiedenen linken Lager zerstritten. Damals war die Schweiz ein Zufluchtsort für russische Oppositionelle. Und Friedrich Dürrenmatt soll das Tal zu seinem Theaterstück Der Besuch der alten Dame inspiriert haben.
Am Talschluss liegt der ungewöhnliche Tschingelsee, der durch einen Murenabgang vor etwa 40 Jahren entstanden ist. Durch das viele Geröll im Bach ist der See inzwischen versandet, und eine Schwemmlandebene mit verzopften Bachströmen entstand. Hier scheinen die senkrechten Talwände unüberwindlich – doch durch die steile Griesschlucht führt eine gewundene Straße noch höher hinauf. Die vielen engen Serpentinen bilden mit 28 Prozent die steilste öffentliche Busroute Europas! Befahren wird sie von einem ungewohnt kleinen Postbus mit Gepäckanhänger.
Parallel zur Postbusstrecke führt der Wildwasserweg durch die Schlucht, vorbei an Wasserfällen und moosigen Felsen zur Pochtenalp, zum Hexenkessel und schließlich zum Hotel Griesalp auf 1400 Metern. Von der Griesalp startet die oben beschriebene lange, aber fantastische Wanderung über die Blüemlisalphütte nach Kandersteg.
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer BERN UND BERNER OBERLAND von Natascha Thoma und Isa Ducke.
BERN UND BERNER OBERLAND
Jungfrauregion, Interlaken, Thun, Emmental, Biel, Berner Seeland
Mit vielen Wanderungen
1. Auflage 2025
320 Seiten
ISBN 978-3-89794-676-7
19,95 €
Im Trescher Verlag sind weitere Reiseführer zu Zielen in der SCHWEIZ erschienen.