Tessin

Bosco Gurin – ein Walserdorf im Tessin

Ein dunkles altes Bauernhaus aus Holz steht neben dem hellen Kirchturm, dahinter Berge
Die Bauweise im Walserdorf Bosco Gurin unterscheidet sich vom restlichen Tessin (© Gregor Saladin)

In Cevio im Maggiatal zweigt eine Straße ins Val Rovana ab. Sie führt über zahlreiche Kurven, darunter zehn Haarnadelkehren, hinauf bis nach Bosco Gurin. Auf 1500 Metern ist es das höchstgelegene Dorf im Tessin. Außergewöhnlich ist jedoch nicht nur die Lage, sondern auch die Bevölkerung. Die Siedlung wurde im 13. Jahrhundert von Walsern gegründet, Auswanderinnen und Auswanderern aus dem überbevölkerten Oberwallis, die über den Alpenhauptkamm auf die Südseite zogen.

Ihre Sprache hat sich bis heute gehalten: Bosco Gurin ist der einzige Ort im Tessin, in dem Deutsch gesprochen wird. Dazu beigetragen hat auch, dass dessen Bewohnerinnen und Bewohner über Jahrhunderte hinweg weitgehend isoliert lebten.

Der Ort hat aktuell noch gut 50 Einwohnerinnen und Einwohner, ist aber weiterhin eine selbständige Gemeinde, die viertkleinste des Kantons. Nachdem um 1240 vielleicht ein Dutzend Männer und Frauen aus dem Wallis als Pioniere das Hochtal gerodet hatten, schwankte die Bevölkerungszahl über die Jahrhunderte meist um etwa 200 Personen, mal etwas mehr, nach Seuchen oder Lawinenabgängen bis ins Dorf wieder deutlich weniger.

1858 wurde mit 420 Personen, darunter über 100 Mädchen und Knaben unter zehn Jahren, der Höchststand erreicht. Das Dorf war damals überbevölkert und konnte seine Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr ernähren, wie die örtliche Chronik berichtet. Infolge der Auswanderung, vor allem nach Übersee und in die Deutschschweiz, sank die Bevölkerungszahl kontinuierlich.

Aufgrund der Abgeschiedenheit heirateten die wenigen Familien im Dorf immer wieder untereinander. Eine Untersuchung ergab, dass die Gurinerinnen und Guriner über neun Generationen hinweg nur die Hälfte an Vorfahren haben, die zu erwarten wären. »Es wäre anzunehmen, dass bei den fortgesetzten Verwandtenehen Degenerationserscheinungen aufträten. Davon ist aber nichts zu merken. Schwachsinn und Geisteskrankheiten sind nicht häufiger als an [anderen] Orten«, hält die Dorfchronik dazu lapidar fest.

Spannende Einblicke in die Historie

Heutzutage ist Bosco Gurin ein beliebtes Ausflugsziel, und die Menschen im Dorf beherrschen Italienisch ebenso gut wie Deutsch. Doch hat der Ort eine völlig untypische Anmutung für das Tessin, man kommt sich eher vor wie im Oberwallis. Außer der Sprache erinnert auch die Architektur der Holzhäuser und der Getreidespeicher an die Herkunft der Bevölkerung.

Alle Gebäude des Dorfkerns stehen unter Denkmalschutz, viele von ihnen tragen Sgraffiti. Sie wurden vom einheimischen Maler und Grafiker Hans Tomamichel (1899–1984) geschaffen, der auch die Werbefigur Knorrli erfand. Die Figur mit Tellergesicht und Zipfelmütze wurde vom Nahrungsmittelhersteller Knorr seit den 1960er Jahren nur in der Schweiz eingesetzt, wo sie gemäß Umfragen weiterhin 93 Prozent der Bevölkerung ein Begriff ist. Eine kleine Ausstellung im Dorfmuseum Walserhaus widmet sich dem Wirken von Hans Tomamichel.

Das Museum zeigt vor allem zahlreiche Gegenstände aus dem früheren Leben der Menschen im Ort. Es befindet sich in einem der ältesten Häuser des Dorfes aus dem Jahr 1386. Es soll die jahrhundertealten Traditionen aufrechterhalten, deren Weiterbestehen zunehmend gefährdet ist. Der damalige Präsident des Heimatmuseums, Leonhard Tomamichel, kam jedenfalls 1987 zur skeptischen Einschätzung: »Heute dürfen wir mit Zuversicht dem Weiterleben des Dorfes entgegenschauen. Wie lange jedoch die Sprache, Kultur und Identität erhalten werden kann, bleibt völlig offen.«

Bis heute jedenfalls wird man von den Gurinerinnen und Gurinern wie im Wallis bis am Mittag mit »Guätun Taag!« und danach mit »Guätun Abund!« (guten Tag respektive Abend) begrüßt und nicht mit dem italienischen »Buongiorno!« oder »Bun di!«, wie sonst im Tessin.

Wandern, Biken, Wintersport

Die Bewohner des weitgehend autofreien Dorfes (Besucherinnen und Besucher müssen ihre Fahrzeuge am Ortseingang abstellen) lebten lange von der Viehzucht und vom Ackerbau. An deren Stelle ist heute der Tourismus getreten, im Sommer vor allem Wandern und Biken, im Winter Skifahren, Wandern im Schnee und Rodeln.

Einen informativen Überblick über das Dorf und die möglichen Wanderungen bietet ein vom Tourismusbüro herausgegebener Flyer, der heruntergeladen werden kann. Die Wandermöglichkeiten reichen vom einfachen Spazierweg bis zu anspruchsvollen Bergtouren.

Im Ort selbst gibt es einen Bosco Gurin und den Walsern gewidmeten Lehrpfad, der in etwa einer Stunde um das Dorf verläuft und an zahlreichen Spuren der Walser Tradition und Kultur vorbeiführt. Zu betrachten sind zum Beispiel die Fresken und Sgraffitos von Hans Tomamichel, verschiedene Kapellen und die 1253 geweihte Kirche der hll. Jakobus und Christophorus, die ältesten Gaden (Speicher) und Ställe und das Museumsgebäude Walserhaus. Kinder können sich auf einem hübschen Spielplatz am Ausgang des Dorfes in der Nähe des Parkplatzes der Sesselbahn vergnügen.

Im Talkessel hinter dem Dorf sind zahlreiche Touren möglich. Eine leichte, etwa einstündige Wanderung führt zur Grossalp-Hütte auf 1900 Metern Höhe. Die anspruchsvollere Wanderung über den Pass Guriner Furka, der auf 2323 Metern liegt, zum See Lago Superiore in Italien dauert etwa vier Stunden. Von dort kann über die Hendar Furggu (Hintere Furke) nach Bosco Gurin zurückgekehrt oder in weiteren vier Stunden ins italienische Val Formazza abgestiegen werden, das ebenfalls von Walsern bewohnt und von ihnen Pomatt genannt wird.

Aus dem Binntal im Wallis führt der Große Walserweg auf den Spuren der einstigen Pioniere und Pionierinnen via Albrunpass ins italienische Val Formazza (Pomatt) und die Guriner Furggu nach Bosco Gurin. Es handelt sich um einen teilweise sehr anspruchsvollen Weitwanderweg mit fünf Etappen. Die beste Wegbeschreibung findet sich im Anhang von S. Corinna Billes literarischer Erzählung Von der Rhone an die Maggia.

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Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer TESSIN von Gregor Saladin.

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