Bayerischer Wald

Der Further Drachenstich

Aufführung Drachenstich, Furth im Wald
Die Drachenstich-Aufführung ist ein mitreißendes Spektakel (© Andreas Mühlbauer/CC BY-SA 3.0)

Jedes Jahr im August verwandelt sich der Stadtplatz von Furth im Wald in eine große Bühne. Es ist die Zeit des Drachenstichs, des ältesten Volksschauspiels in Deutschland, welches die 9000 Einwohner zählende Stadt weit über die Grenzen des Bayerischen Waldes hinaus bekannt gemacht hat. Der Inhalt der Legende, an deren Inszenierung halb Furth beteiligt ist, lässt sich etwa so zusammenfassen: In einer Zeit, in der Not und Elend herrschen, steigt ein Drache aus den Wäldern empor. Er will die Bürger Furths nur dann verschonen, wenn ein von jeder Sünde freier Mensch sich ihm freiwillig opfert. Eine Jungfrau ist dazu bereit. Rechtzeitig aber kehrt der bereits tot geglaubte Ritter Udo nach Hause zurück und tötet den Drachen, das Symbol für Unheil, Hass und Verderben. So kurz, so banal, könnte man meinen. Tatsächlich jedoch wurde der Drachenstich im Laufe der Jahrhunderte stets im Sinne der gerade herrschenden Zeiten interpretiert.

Erstmals erwähnt wird das Volksschauspiel im Further Ratsbuch von 1590. Wie alt die Tradition jedoch wirklich ist, lässt sich nach Ansicht der Stadthistoriker nicht mehr feststellen. Ursprünglich wurde das Stück während der Fronleichnamsprozession aufgeführt. Besonders in der Barockzeit traf dabei die Freude an pompösen Inszenierungen mit dem Ziel zusammen, die vom rechten Glauben abgefallenen Protestanten wieder heim in den Schoß der katholischen Kirche zu holen. Zugleich galt das beim Drachenstich vergossene Drachenblut als wunderwirkend, und Pilger aus Böhmen und Bayern tränkten damit ihre Taschentücher. Vom Einfluss der Kirche befreien konnte sich der Drachenstich erst 1879. Vorausgegangen war ein Jahrhundert der Auseinandersetzungen um den religiösen Inhalt, den immer mehr Further ablehnten. Stattdessen ließen sie den Drachen nach attraktiven Zuschauerinnen schnappen und von einem angeheiterten Ritter erschießen.

… wenn die Zeiten so sind, dass der Mensch zum Menschen schlechter ist als das Vieh zum Vieh, dann hat der Drache seine Zeit …
Aus Der Drachenstich

Vor den beiden Weltkriegen wurde der Ton des Stücks politischer und war bestimmt von der eindringlich präsentierten Notwendigkeit, Russland und Frankreich als Verkörperungen des Bösen zu besiegen. Im Kalten Krieg war der Drache schließlich das Symbol für die kommunistische Bedrohung aus dem Osten. Den neuen Text schrieb damals der Taufkirchner Schriftsteller Josef Martin Bauer, besser bekannt als Autor des mehrmals verfilmten Nachkriegsromans So weit die Füße tragen. Das 1951 verfasste Schauspiel war bei den Einheimischen jedoch erneut umstritten, lieber hätten sie wieder eine unpolitische Tragikomödie um Liebe und Tod gehabt. Bauers Stück wurde dennoch mehr als fünf Jahrzehnte und damit auch noch nach Öffnung der Grenzen gespielt – wenngleich mit kleinen Textkorrekturen.

Urzeitvieh trifft Hightech

Der heutige Drachenstich stammt von Regisseur Alexander Etzel-Ragusa und wurde 2006 erstmals aufgeführt. Im Mittelpunkt steht nun der Kampf des Deutschen Ritterordens gegen die Hussiten im böhmischen Domažlice an einem Augustsonntag des Jahres 1431: Mit viel Pyro- und sonstiger Technik wird der ewige Kampf des Menschen gegen das Böse inszeniert. Jeder Mord, jedes Unrecht des Krieges lässt das jahrhundertelang schlummernde Untier, den Drachen, zu neuem Leben erwachen. Besiegt werden kann er ganz im Sinn der ursprünglichen Legende natürlich nur von dem furchtlosen Ritter Udo und der ebenso schönen wie jungen Schlossherrin von Furth. Die alljährliche Auswahl dieses Paares ist das gesellschaftliche Ereignis der Stadt. Über die Hobbys und den beruflichen Werdegang des aktuellen Udo und seines Schlossfräuleins informiert das Internet unter www.drachenstich.de. Dort findet sich auch eine ansehnliche Bildergalerie aller Ritterpaare seit 1900.

Die Hauptfigur des Stücks, den Drachen, kann man sich in seiner Höhle am Volksfestplatz und im Landestormuseum von Furth am Schlossplatz ansehen. Tatsächlich sind es mehrere Drachen, denn so wie das Stück hat sich auch das Untier im Laufe der Jahrhunderte verändert. Seit 2010 ist ein Hightech-Monster im Einsatz, an dem mehr als 20 Firmen und Institutionen, darunter auch Fachleute aus Hollywood und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik, mitwirkten. Der neue Drache mit den Namen Tradinno – eine Zusammenballung von »Tradition« und »Innovation« – wurde mit Mitteln der EU gefördert, ist knapp 16 Meter lang und hat eine Flügelspannweite von 12 Metern. Für die notwendigen Spezialeffekte sorgen 80 Liter Kunstblut und 11 Kilogramm Flüssiggas.

Cocer Reiseführer Bayerischer Wald

Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer BAYERISCHER WALD von Sabine Herre.

BAYERISCHER WALD

Mit Passau, Straubing und Regensburg sowie Ausflügen in den Böhmerwald

4., aktualisierte Auflage 2022
268 Seiten
ISBN 978-3-89794-594-4

16,95 €

 

Im Trescher Verlag sind zahlreiche weitere Reiseführer zu Zielen in DEUTSCHLAND erschienen.