Auf dem Görlitzer Untermarkt wandern die Augen von einer prächtigen Fassade zur nächsten. Es scheint, als hätte hier jemand eine übervoll mit architektonischen Schmuckstücken gefüllte Wundertüte ausgeschüttet. Aber nicht allein wegen der prächtigen Fassaden stellen die Häuser eine Besonderheit dar, dahinter verbirgt sich eine besondere Bauform, das Hallenhaus.
Der Typus des Görlitzer Hallenhauses ist einzigartig in Deutschland und weniger ein schlichtes Haus als vielmehr ein Palast. 35 solcher Prunkstücke stehen noch in der Görlitzer Altstadt. Johann Wolfgang von Goethe bezeichnete die Gebäude anerkennend als »Kaufmannsburgen«.
Hallenhäuser sind steinerne Zeugnisse des früheren mitteleuropäischen Handelswesens, heute allerdings nur noch selten zu finden. Erhalten haben sie sich beispielsweise in Jihlava (Iglau) in Tschechien.
Im Spätmittelalter kauften Görlitzer Tuchhändler mehrere kleinere Gebäude auf und ließen sie zu stattlichen Hofkomplexen zusammenfügen. Geld war genügend vorhanden, denn die Besitzer dieser Häuser waren durch die günstige Lage des Handelsplatzes Görlitz an der Hohen Straße, der Via Regia, zu Reichtum gelangt.
Findige Baumeister
Allerdings war der Baugrund knapp. Und die Grundstücke besaßen nur einen schmalen Zuschnitt, weil die Anzahl der Fenster zur Straßenseite über die Höhe der Steuern entschied. Alle Besitzer und Architekten standen vor dem gleichen Problem: Bei herkömmlicher Bauweise würde kein Tageslicht in die Mitte der Gebäude gelangen. Offene Lichthöfe, wie in mediterranen Regionen üblich, waren wegen des kälteren Klimas hier keine Option.
Die Baumeister lösten das Problem, indem sie einen neuen Bautyp schufen, eben das Görlitzer Hallenhaus. Dabei werden Vorder- und Hinterhaus unter einem Dach verbunden und durch eine Zentralhalle zugänglich gemacht, die zwei bis drei Stockwerke in die Höhe ragt. Hier genügt ein weit oben eingelassenes Fenster, um das Tageslicht durch Reflexionen über weiße Kalkwände und Gewölbe im ganzen Raum zu verteilen.
Die zentrale Halle als Handelsplatz
Von der Balustrade der Zentralhalle bis ins Erdgeschoss wurden Stoff- und Tuchballen ausgerollt, Kaufinteressierte konnten sich hier von der Qualität am besten überzeugen. Somit war der Raum ein Ort des Handelns und zugleich des Repräsentierens. Nach dem Umbau besaßen die Fernhändler hier auch riesige Lager- und Stapelräume.
Tritt man in die Zentralhalle eines Hallenhauses ein, ist man sogleich von der großzügigen Raumanordnung überrascht. Die Fuhrwerke rollten in die Eingangshalle, die Waren wurden umgeladen. Und abends sprachen hier die Bürger dem in den Kellerräumen gebrauten hauseigenen Bier zu. Der Renaissancesaal im Erdgeschoss ist zumeist von einer herrlich bemalten Holzdecke verziert.
Hoffnung auf den Welterbetitel
Die Stadt Görlitz bewirbt sich mit dem Thema »Ein Architekturensemble von Kaufleuten an der Via Regia« um den UNESCO-Welterbetitel. 30 dieser bürgerlichen Paläste werden für die Welterbe-Bewerbung erforscht. Sie sind authentische mittelalterliche Beispiele für das einstige zentraleuropäische Handelssystem. Eigentümerchroniken liegen seit dem 14. Jahrhundert vor.
Interessierte können sich eine Ausstellung im noch unsanierten Hallenhaus in der Brüderstraße 9 anschauen (Juni–Okt. Di–So 10–18 Uhr).
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer GÖRLITZ von André Micklitza.
GÖRLITZ
Mit Berzdorfer Seengebiet, Ostritz/St. Marienthal, Königshainer Bergen und Niesky
4., aktualisierte und erweiterte Auflage 2024
168 Seiten
ISBN 978-3-89794-649-1
12,95 €
Im Trescher Verlag sind zahlreiche weitere Reiseführer zu Zielen in DEUTSCHLAND erschienen.