Nordhessen

Dorflinden in Nordhessen

Zwei mächtige Dorflinden in Berndshausen
Die beiden Dorflinden von Berndshausen stehen auf dem Kirchhof (© Peggy Leiverkus)

»S litt enger die Leng« – »Es läutet unter der Linde«, so sagte man früher in Hessen, wenn mit Glockengebimmel unter der Dorflinde Bekanntmachungen verkündet wurden. Die zentral im Ort stehenden Linden sind seit jeher in vielen Dörfern Deutschlands Mittelpunkt des Gemeindelebens, wo sich die Menschen treffen, um Neuigkeiten auszutauschen oder miteinander zu feiern. Im südlichen Nordhessen gibt es noch besonders viele von ihnen.

»Unter den Linden pflegen wir zu singen, trinken und tanzen und fröhlich zu sein, denn die Linde ist uns ein Friede- und Freudebaum.« So beschrieb es Martin Luther. Aber nicht nur unter, sondern auch in der Linde konnte es voll werden: Vieler­orts wurde in den sogenannten Tanzlinden eine über Treppen erreichbare Ebene eingezogen. Diese luftigen Tanzböden boten Platz für bis zu zwölf Tanzpaare einschließlich Kapelle.

Gerichtslinden hingegen dienten, wie der Name es schon andeutet, einer anderen Funktion: Bereits die germanische Volks- und Gerichtsversammlung, das Thing, hatte oft unter Bäumen stattgefunden. Gerade die Linde mit ihren ausladenden, vor dem Wetter schützenden Ästen bot sich hierfür an. Mit der Auflösung der germanischen Stammesverbände im Frühmittelalter verlor das Thing an Bedeutung. Doch der Brauch, Gericht an den alten Versammlungsstätten zu halten, blieb bis in die Neuzeit bestehen. Hier gefällte Urteile wurden mit den Worten »gegeben unter Linden« beschlossen.

Blüten, Rinde, Holz

Dass gerade die Linde eine solch wichtige Rolle im Leben der dörflichen Gesellschaften spielte, liegt sicher auch darin begründet, dass der Baum auf verschiedene Weise bewirtschaftet werden konnte: Die Blüten ziehen Bienen an und ergeben ­einen heilkräftigen Tee. Der Rindenbast lässt sich zu Schnüren, Seilen, Bogensehnen, Kriegsschilden und sogar Kleidung verarbeiten. Das weiche Holz schließlich eignet sich zum Schnitzen von Alltagsgegenständen wie Holzschuhen und Löffeln, aber auch für kunstvolle und filigrane Heiligenbilder.

Fast 1000 Orte und zahllose Gasthäuser, deren Name auf die Linde zurückgeht, zeugen ebenso von der großen Bedeutung dieses Baumes wie die vielen Sagen und Legenden, die sich um ihn ranken. Ähnlich wie die Eiche dem Donnergott Donar geweiht war, soll die Linde der Freya, der Göttin der Liebe und Schönheit, heilig gewesen sein.

Dorflindentour

Dorflinden gab es in ganz Deutschland. Gerade im südlichen Nordhessen haben sich viele dieser Bäume erhalten, davon die ältesten, vermutlich über 1000 ­Jahre alten Exemplare in Neuenstein-Aua und in Schenklengsfeld.

Letztere gehört zu den ältesten Exemplaren überhaupt. Im Jahr 760 gepflanzt, wird sie gar als einer der ältesten Bäume in Deutschland gehandelt. Das Besondere sind ihre vier Stämme, die vermutlich irgendwann aus einem abgestorbenen Haupttrieb herausgewachsen sind und mit einer ringsherumlaufenden Holz­kon­struk­tion gestützt werden. Ob es Zufall ist, dass sie exakt in die vier Himmelsrichtungen streben? Dieser Baum jedenfalls ist eine Institution, deshalb dient er auch als Außenstelle des Standesamtes.

Wer sich für historische Kirchhöfe und Dorflinden interessiert, stattet auch dem Dorf Berndshausen einen Besuch ab. Die beiden historischen Linden vor dem Kirchhof sind so alt, dass die dicken Äste wie ein Spinnennetz in alle Richtungen davonstreben und durch eine große Holzkonstruktion gestützt werden müssen. Im Schatten der Bäume steht ein steinerner Gerichtstisch, der auf deren historische Funktion hinweist. Auf den Kirchhof samt Wehrkirche aus dem 18. Jahrhundert gelangt man durch ein Holztor aus dem Jahr 1452, dessen archaisches Schloss für technisch Unbegabte eine kleine Herausforderung darstellt. Der abgeschlossene und wunderbar gepflegte Kirchhof ist ein Quell der Ruhe und lädt zum Erkunden der historischen Grabdenkmäler ein.

Cover Trescher-Reiseführer Nordhessen

Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer NORDHESSEN von Peggy Leiverkus.

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