Sachsen-Anhalt

Die Goitzsche – Metamorphose einer Landschaft

Ein riesiger Abraumbagger steht über leeren Zuschauerrängen
Tagebaugeräte auf dem Festivalgelände Ferropolis (© Sergey Kelin/shutterstock.com)
Wann eigentlich nahm das alles seinen Anfang? Vor 50 Millionen Jahren, als im Tertiär ein fossiler Brennstoff entstand, den wir heute Braunkohle nennen? Im Jahr 1908, als die Bagger begannen, sich in die damalige Auenlandschaft Goitzsche zu fressen? Am 14. Juni 1990, als man im noblen »Bureau International des Expositions« in Paris der Stadt Hannover den Zuschlag für die Weltausstellung EXPO 2000 erteilte? Oder in den vier, fünf Jahren danach, als kluge Köpfe und kühne Denker in Hannover, Magdeburg und Dessau entschieden, die EXPO-Chance zu nutzen, um auch an Korrespondenzorten zu zeigen, wie eine neue Welt entstehen kann?

Rund 1,28 Milliarden Kubikmeter Abraum wurden bis 1993 allein in der Goitzsche bewegt, um knapp 500 Millionen Tonnen Rohbraunkohle zu fördern. Sie war »Verfügungsmasse« für Kraftwerke, für die chemische und andere Industrien des 20. Jahrhunderts. Was zurückblieb vor den Toren von Bitterfeld-Wolfen und Gräfenhainichen war verwüstete Natur. Für die schrundige Landschaft sahen viele keine Perspektive.

Das änderte sich mit der Einbeziehung der Industrielandschaft als Korrespondenzregion in die EXPO 2000. 36 Einzelprojekte zwischen Dessau, Bitterfeld, Wolfen und Lutherstadt Wittenberg wurden auserkoren. Sie sollten die Möglichkeiten eines Strukturwandels zeigen, der Mensch, Natur und Technik tatsächlich zusammendenkt.

Das anspruchsvollste dieser Projekte war die Gestaltung des Landschaftsparks Goitzsche (spricht der Kenner übrigens: Gottsche) als weltweit größtes Landschaftskunstprojekt. Künstler aus aller Herren Länder setzten ihre Assoziationen in 14 in die Landschaft eingebetteten Kunstwerken um. So wurde Symbolträchtiges geschaffen, wie der 28 Meter hohe begehbare Bitterfelder Bogen, die 60 Meter lange Blaue Bank und der Pegelturm. Dieser ist 26 Meter hoch und über eine 200 Meter lange Seebrücke zu erreichen. 1999 begann die Flutung des Tagebaurestlochs, die Bitterfelder Wasserfront entstand. Auf der Halbinsel Pouch liegt die Agora, ein Veranstaltungsort mit faszinierender Akustik.

Vom Kohleloch zum Badesee

Rund 60 Quadratkilometer groß ist das gesamte Areal, in dessen Zentrum sich heute eine zauberhafte Seenlandschaft befindet. Sie ist damit größer als der Berliner Wannsee oder das Steinhuder Meer. Auf ihr und auf dem 108 Kilometer langen Wegenetz sind heute Dinge alltäglich, die vor einem Vierteljahrhundert in das Reich der Fantasie verwiesen worden wären. Segeln, surfen, angeln, joggen, wandern, radeln, einen Sundowner auf der Terrasse der Villa am Bernsteinsee ggenießen, eines der schwimmenden Häuser mieten.

Apropos Bernsteinsee: 400 Tonnen Bernstein – »Tränen der Götter« genannt – wurden seit den 1970er Jahren im Tagebau gefördert, was dem heutigen Top-Hotel seinen Namen gab. Geliefert wurde die gelbe Kostbarkeit übrigens nach Ribnitz-Damgarten und dort zu echtem Ostsee(!)-Schmuck verarbeitet. Eine Metamorphose der besonderen Art …

Am Ende eines Steges steht ein spiralförmiger Turm in einem See
Pegelturm am Goitzschesee (© Traveller Martin/shutterstock.com)

Ferropolis – Stadt aus Eisen

Eine Metamophose, wie man sie heute auch erleben kann, wenn – wenige Kilometer nordöstlich der Goitzsche – zwischen »Mad Max«, »Mosquito« und »Big Wheel« die Bässe wummern und die Lichtblitze der Scheinwerfer in den Nachthimmel zucken. Ferropolis – die Stadt aus Eisen, auch sie ein Kind der mitteldeutschen Industriegeschichte und des klugen Umgangs mit ihr.

Als der 1958 aufgeschlossene Tagebau Golpa-Nord 1991 ausgekohlt war, begann man auch hier mit der Sanierung. Dazu entstand in der Werkstatt »Industrielles Gartenreich« am Bauhaus Dessau die Idee, Tagebaugroßgeräte als Zeugen der Vergangenheit an einem Ort zusammenzuführen. Mit der EXPO 2000 bekam diese Idee Rückenwind von Sturmstärke. 1995 wurde Ferropolis Projekt der Weltausstellung, am 14. Dezember des Jahres die Gründung der »Stadt aus Eisen« vollzogen. Auf einer Halbinsel im mit der Tagebauflutung entstehenden Gremminer See wurden fünf riesige Bagger und Absetzer platziert, die Ferropolis-Arena für 25 000 Besucher wurde gebaut, dazu die notwendige Infrastruktur. 2009 wurde Ferropolis Ankerpunkt auf der Europäischen Route der Industriekultur. Sie wurde zur mehrfach mit Live Entertainment Awards geehrten Eventarena mit längst internationaler Anziehungskraft.

Jahr für Jahr zieht es Zehntausende ins Museum und zu den stählernen Giganten mit den fantasieanregenden Namen. Neben den oben genannten sind das »Medusa« und »Gemini«, den man bis in fast 30 Meter Höhe auch besteigen kann. Vor allem pilgern die Massen aber zu den Konzerten und Festivals. Seit Mikis Theodorakis mit einem unvergessenen Konzert im Jahr 2000 die Arena eröffnete, gaben sich Metallica, Oasis und The Streets, Grönemeyer und Maffay, Die Ärzte und Die Toten Hosen und viele andere die Mikros in die Hand. Mit ihren Fans genossen sie perfekte Akustik und eine einmalige Atmosphäre. Die Festivals »Melt«, »Splash« und »Full With Force« machen Ferropolis tagelang zum »Woodstock der Gegenwart« – Giganten neben und auf der Bühne …

Cover des Trescher-Reiseführers Sachsen-Anhalt 2024

Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer SACHSEN-ANHALT von Heinzgeorg Oette.

SACHSEN-ANHALT

Mit Magdeburg, Halle (Saale), Dessau, Lutherstadt Wittenberg, Naumburg und Ostharz

5., aktualisierte Auflage 2024
436 Seiten
ISBN 978-3-89794-684-2

19,95 €

 

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