Sicherlich ist Vorarlberg im Vergleich mit anderen österreichischen Bundesländern weniger reich an großartigen Baudenkmälern und Kunstwerken, und zweifellos wird das Land auch nicht in erster Linie wegen seiner Bauten besucht. Der Tourist, der nach Vorarlberg kommt, reist in das Land vor allem wegen der Naturschönheiten und Wintersportmöglichkeiten. Aber es gibt trotzdem einiges an kunsthistorisch wertvollen Schöpfungen zu entdecken, zum Beipiel die moderne Holzarchitektur.
Oft heißt es, dass Vorarlberg das fortschrittlichste Land der Welt ist, wenn es um Architektur oder insbesondere um Holzarchitektur geht. Innovative Holzbaukunst hat hier seit über 50 Jahren Tradition. Besonders auf dem Land findet man ungewöhnliche Neubauten mit Flachdächern, großen Fenstern, offener Südseite und Holzfassade bei gleichzeitig großer Phantasiefülle in den Details. Markantestes Element ist aber die Fassade aus unbehandelten Holzlatten.
In Vorarlberg durfte und darf jeder Bürger seinen Hausneubau selbst entwerfen, ist nicht auf einen Architekten angewiesen, und reicht dann den Plan bei der Gemeinde ein. So kam es, dass Maurer, abgebrochene Architekturstudenten oder sonstige Privatbaumeister Gebäude entwarfen. Der Landesarchitektenkammer gelang es nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Die jungen Bauwilden schlossen sich ihrerseits 1979 zur Gruppe der »Vorarlberger Baukünstler« zusammen.
Und auch die Bevölkerung setzte sich immer mehr mit der neuen Bauweise auseinander. Wurde anfangs nur herablassend von »Kisten« gesprochen, attributiert man die sehr oft würfelförmigen Häuser nun als »schön wie alte Scheunen«. Ende der 1990er Jahre war die neue funktionale Bauweise landesweit anerkannt, insbesondere nachdem viele Bauten als Designerschöpfungen mit Preisen ausgezeichnet worden waren.
Die neue Art des Bauens griff auf Kirchen, Schulen und öffentliche Gebäude über, und kaum ein Privatmann baut mehr im überkommenen Stil früherer Jahrzehnte. Im Gegenteil – oft schreibt die örtliche Baubehörde sogar das Flachdach vor. Geschnitzte Balkone, Fensterläden, spitze Dächer und gebeizte Holzfassaden, wie es im nahen Tirol und anderen Alpenregionen üblich ist, sieht man in Vorarlberg bei Neubauten immer seltener.
Herausragende Beispiele dieses Stils sind unter anderem das Feuerwehrhaus (Kulturhaus) in Hittisau, das Rathaus von Andelsbuch, die Dorfbibliothek und das Pfarrhaus in Satteins, das Polizeirevier in Bregenz, die Volksschule in Doren, die Bergstation der Golmerbahn, die Molkerei Metzler in Bruggan und das Hotel-Restaurant Martinspark in Dornbirn. Spektakulär sind die sieben Buswartehäuschen in und um Krumbach (Bregenzerwald), die 2013 über einen internationalen Architektenwettbewerb als Projekt BUS:STOP entstanden.
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer VORARLBERG von Gunnar Strunz.
VORARLBERG
Bodensee, Bregenzerwald, Großes Walsertal, Kleinwalsertal, Arlberg und Montafon
6., aktualisierte Auflage 2024
256 Seiten
ISBN 978-3-89794-6187-3
16,95 €
Im Trescher Verlag sind zahlreiche weitere Reiseführer zu ÖSTERREICH erschienen.