Das georgische Gastmahl ist eine kulturelle Institution, nicht zu vergleichen mit dem, was man in anderen europäischen Ländern unter diesem Wort versteht. Um sich zu einem Gastmahl zusammenzufinden, ob daheim oder in einem der zahlreichen Restaurants, braucht es keinen besonderen Anlass, obwohl es auch solche gibt – Geburtstage, Feiertage, Hochzeiten, die Geburt eines Kindes, der Besuch von Freunden oder deren Freunden –, ein Gastmahl wird dann abgehalten, wenn die Seele danach verlangt.
Neben den Teilnehmern gehören zu einem Gastmahl Unmengen verschiedener Gerichte: kalte und warme Vorspeisen, frische oder marinierte Kräuter, die ununterbrochen aufgetragen werden, ebenso wie diverse Fleisch- und Fischgerichte, in Abhängigkeit von der Bedeutung des Anlasses und der zur Vorbereitung zur Verfügung stehenden Zeit.
Und zu einem Gastmahl gehört Wein, der nie ausgehen darf und den die Georgier trinken wie Wasser. Das vermag den genügsamen Mitteleuropäer zu Gesten der Verwunderung hinreißen. Wenn er denn nach dem achten Liter noch dazu in der Lage ist. Die ungeschriebenen Gesetze des Gastmahls verbieten es, die eigene Trunkenheit zu zeigen, und in der Regel wird dies auch befolgt.
Der wichtigste Mensch am Tisch
Der wichtigste Bestandteil, sein eigentlicher Geist, sind die vor jedem geleerten Glas ausgebrachten Trinksprüche. Ein Nippen am Glas zwischendurch verbietet sich von selbst. Der Dirigent der Trinksprüche ist der wichtigste Mensch am Tisch – der tamada.
Ihm, der von der Tafelrunde vor dem Beginn des Mahls bestimmt wird, obliegt es, das Thema ebenso wie das Tempo der Trinksprüche zu bestimmen. Von ihm wird verlangt, dass er sein wichtigstes Instrument, die Sprache, virtuos und in allen poetischen und philosophischen Nuancen beherrscht, dass er gebildet ist, witzig und klug, um dem Austausch die Richtung zu geben. Von einem guten tamada erwartet man Bonmots, Paradoxa und Parabeln, und wenn er den Erwartungen der Tafelrunde entspricht, wird man ihn noch lange würdigen.
Die Kunst des gelungenen Trinkspruchs
Die Themen der Trinksprüche sind zunächst vorgegeben: Man trinkt auf Gott und seinen Sohn. Auf den Gastgeber und die Gäste. Auf die Abwesenden und das Andenken der aus dem Leben Geschiedenen. Auf die Liebe und die Frauen, die Kinder und die Alten. Auf die Heimat und die Freundschaft. Auf die Wechselfälle des Lebens. Auf den Wein und gutes Gelingen in allen Angelegenheiten. Auf alles, was das Herz erfreut, begehrt und erschwert.
Jeder Trinkspruch ist aus dem Herzen gesprochen, und oft paaren sich Weisheit mit Humor, Poesie mit Esprit. Im Verlaufe des Abends werden die Reden länger, und häufig wird in den Pausen gesungen.
Ein gelungenes Gastmahl kann Menschen, die sich vorher nie begegnet sind, nicht nur einander nahebringen, sondern sie dazu anregen, sich Dinge zu sagen, die sie nie vergessen werden. Zwischendurch werden in einem Zuge Trinkhörner geleert, die bis zu einem oder mehr Liter Wein fassen. Man ruft sich »Alaverdi« zu, was bedeutet, dass der von einem Gast vorgebrachte Trinkspruch von einem ihm benannten anderen Gast weitergesponnen wird.
So vergehen Stunden um Stunden. Das ist der Idealfall, der in der raueren Wirklichkeit auch prosaische Züge annehmen kann, wenn das Ritual entleert ist und das Besäufnis den Wunsch nach Nähe und gedanklichem Austausch überschattet.
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer GEORGIEN von Giorgi Kvastiani, Vadim Spolanski und Andreas Sternfeldt.
GEORGIEN
Mit Tbilissi, Batumi, Kachetien, Kartli, Adscharien, Kolchis, Schwarzem Meer, Swanetien
12., aktualisierte Auflage 2025
464 Seiten
ISBN 978-3-89794-698-9
24,95 €
Im Trescher Verlag sind weitere Reiseführer zu Zielen im KAUKASUS erschienen.