»Renn auf mich zu«, instruiert ein Kameramann den schwarzen Gesellen, »schwing wild deine Rute, schreie und springe!« Für die Medien aus aller Welt, die Jahr für Jahr zur Berichterstattung an den Vierwaldstättersee reisen, sind die Rollen beim Klausjagen in Küssnacht klar verteilt. Schmutzli heißen die Bösen, die in dunklen Kutten und geschwärzten Gesichtern unterwegs sind – Samichlaus der Gute. Hinter dem Namen verbirgt sich der Heilige Nikolaus, der mit Bischofsstab und Mitra jährlich an seinem Namenstag (6. Dezember) ganz würdevoll durchs Dorf schreitet. Fällt der allerdings auf einen Samstag oder Sonntag, ist der Samichlaus schon freitags unterwegs.
Das Fest ist Jahr für Jahr das gleiche. Kaum sind Viertel nach acht die Lampen im Dorf verlöscht, tönt aus dem nächtlichen Dunkel höllischer Krach. Mit schweren Glocken ziehen viele Hundert Männer und Burschen lärmend durch die Nacht. Andere traktieren lautstark ihre Kuhhörner, so als wollten sie mit ihrem Getöse die Welt aus den Angeln heben. Der Haufen weckt Erinnerungen an Wotans wildes Heer, das im Volksglauben einst durch die Winternächte tobte. Mit Schafsgeißeln peitschen stämmige Burschen den Zug durch das Spalier der Zuschauer, machen so Platz für die rund 200 ganz in Weiß gekleideten Männer mit den großen Lichterkappen auf dem Kopf.
Das Klausjagen im Wandel der Zeit
»Iffele« nennen die Einheimischen die kiloschweren Kopfbedeckungen. Oder schlicht »Infuln«, was an die lateinische infula erinnert, den Bischofshut. Über 15 Kilo schwer und bis zu 2,5 Meter hoch sind die prächtigsten, mit denen die Burschen und Männer entlang der Zuschauerreihen tänzeln, die Knie vor Freunden und Verwandten, die sie im Dunkeln entdecken, beugen und sie so grüßen. Es ist ein rituelles Spiel mit langer Tradition. Volkskundler erinnert es an die Narrenfeste des Mittelalters, als man zum Jahreswechsel geistliche Riten nachahmte und die Welt für ein paar Stunden auf den Kopf stellte, indem man sich riesige Bischofshüte überstülpte. Von Parodie aber will am Vierwaldstättersee heute niemand etwas wissen. Im Gegenteil, Ernst und Eifer bestimmen längst das Treiben der Lichterkläuse in ihren weißen Hemden mit rotem Gürtel.
Über das Alter des Klausjagens wird viel spekuliert. Schon zu heidnischen Zeiten, heißt es bei den Einheimischen, sei man im Winter lärmend umhergezogen. Aktenkundig wird der Brauch erstmals 1732 in einem Ratsprotokoll. »Wegen den Buben, die durch ihr Hornblasen und Tricheln nächtlicher Zeit die Leute so beunruhigen, ist erkannt, dass bei einem Pfund Buße sie solches in solchem Ungestüm nicht mehr tun sollen.« Auch in der Folgezeit war wenig Rühmliches über den Brauch zu lesen. Das änderte sich 1928 mit der Gründung der »St. Niklausengesellschaft«, die das Spiel veredelte. Seit 1933 organisiert sie offiziell den Brauch. Damals verpflichteten sich die Küssnachter Bürger, »das Klausenjagen in würdiger und schöner Form durchzuführen und alle Ausartungen zu vermeiden«.
In liebevoller Handarbeit
Aus den bis dahin wenig auffallenden Bischofsmützen, die an den hl. Nikolaus erinnern sollten, wurden spektakuläre Lichterkappen, deren Baupläne heute fast jedes Kind in Küssnacht kennt. Grundstock sind zwei große Kartons, die wie ein gotisches Kirchenfenster nach oben spitz zugeschnitten werden. Darauf zeichnet man mit Bleistift und Zirkel Ornamente und Figuren, auch Rosetten, Bänder und Girlanden, die mit einer Stanze herausgestochen und schließlich auf der Innenseite mit buntem Seidenpapier hinterlegt werden. Ehe man die beiden Kartons, die unten auf einem ovalen Holzbrettchen stehen, an der Seite zusammenheftet, befestigt man auf einem Holzgestell im Innern noch ein paar Kerzen, die für den nächtlichen Lichterzauber sorgen. Bis zu 800 Arbeitsstunden stecken in den schönsten Exemplaren. Meist zeigen sie den hl. Nikolaus, aber auch die Gottesmutter oder die Vorderfront des nahen Klosters Einsiedeln.
Wildes Treiben bis in den Morgen
Die Lichterkläuse ebnen Samichlaus den Weg, den eine Handvoll Fackelträger und eine Handvoll Schmutzli begleiten, junge Burschen mit schwarzen Gesichtern, die Schweizer Ausgabe von Knecht Ruprecht sozusagen. Dem Heiligen folgen Hundertschaften mit schweren Glocken. »Trychler« heißen sie am Vierwaldstättersee, die eigentlichen Klausjäger, ein Trupp in weißen Hirtenhemden und schwarzem Gurt. In Fünferreihen sind sie unterwegs, ihr Eisenblech im Gleichtakt vom einen auf den anderen Oberschenkel schlagend.
Am Seeufer vor der großen Kirche macht der Lichterumzug Pause, ehe es zurück ins Dorf geht, wo er sich eine gute Stunde später auflöst. Dann gehen die Lichter wieder an, ziehen die meisten der vielen Tausend Zaungäste aus Küssnacht ab. Die Lichterkläuse aber feiern weiter, bis morgens früh zum Teil, wenn sich die Tapfersten zur letzten Nikolausparade vereinen. Zum sogenannten Sächsizügli, bei dem es einigen sichtlich schwerfällt, die riesigen Lichterkappen auf dem Kopf zu halten.
Aktuelle Infos und Termine rund um das Klausjagen: http://www.klausjagen.ch
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer ZENTRALSCHWEIZ von Günter Schenk.
ZENTRALSCHWEIZ
Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Zug
Mit Vierwaldstättersee sowie Ausflügen nach Zürich und ins Berner Oberland
1. Auflage 2024
264 Seiten
ISBN 978-3-89794-656-9
19,95 €