Wer als Besucher nach Berlin kommt, sollte sich wappnen für den eher ruppigen Umgangston. Aber keine Angst! Dass die Berliner Schnauze meist nur Fassade und der Hauptstadtbewohner an sich ein Gemütsmensch ist, hat schon Theodor Fontane festgestellt.
Flughafen BER: Ein Besucher der Stadt hat sich nach langem Flug durch die Passkontrolle und den Zoll gequält und steht jetzt an der Bushaltestelle. Er steigt ein, zückt einen 50-Euro-Schein und möchte ein Ticket kaufen. »Ham set nich noch jröhser?«, schnauzt ihn der Fahrer an, gefolgt von bösen, verständnislosen Blicken. Kein weiteres Wort. Es ist genug gesagt.
Offenbar hat der Schriftsteller Theodor Fontane (1819 –1898), der vielleicht profundeste Kenner der Stadt, einen Vorfahren des besagten Busfahrers gekannt. Wie sonst hätte er schon 1878 schreiben können: »Mit der Ortseitelkeit hängt zusammen, daß auf den Fremden gar keine Rücksicht genommen wird. Überall in der Welt kommt man dem Fremden entgegen und macht seine Interessen zu den seinigen oder gibt sich wenigstens das Ansehen davon. (…) Das kennt der Berliner nicht.«
In einer anderen Stadt hätte man den Fremden vielleicht auch zum Wechseln des großen Scheines weggeschickt, aber man hätte es vermutlich mit freundlicheren Worten getan. Dem Berliner aber sind übertriebene Freundlichkeit und die allzu häufige Verwendung der Worte »bitte« und »danke« fremd. Dazu nochmals Fontane: »Das Berliner Wesen, das einem auf der Straße und in der Kneipe, überhaupt im alltäglichen Leben entgegentritt, ist anfangs ungenießbar; Schärfe, Unverschämtheit, Lieblosigkeit bringen den Fremden um.« Immerhin, im selben Absatz schreibt er weiter: »Aber hinter diesen trostlosen Erscheinungen, die sich aufdrängen, gibt es wohltuende, die sich verbergen und die man kennenlernen muß, um nicht voll ungerechter Vorurteile uns wieder zu verlassen«.
Von Fontane lernen
Berlin ist die einzige Stadt, in der man stolz darauf ist, im Rufe der Unfreundlichkeit zu stehen. »Berliner Schnauze« nennen das die Einheimischen selbstbewusst, und die Gäste begegnen ihr mit einer Mischung aus Respekt und Furcht. Da hilft es nur, es den Berlinern gleichzutun. Theodor Fontane verrät auch wie. Wer ein richtiger Berliner werden wolle, müsse lernen, einen anderen anzurempeln und ihn dann mit den Worten »Pass besser uff!« zurechtzuweisen.
Meyers Konversationslexikon schrieb 1890: Der Berliner ist »leicht aufbrausend, zum Streit geneigt, rechthaberisch und spottsüchtig«. Aber ähnlich wie Fontane verkennt auch das Lexikon nicht, dass sich unter der rauen Schale ein weicher Kern versteckt. Denn dort heißt es weiter: »Von Natur ist der Berliner gutmütig, leicht gerührt, in hohem Grad wohltätig und unter Umständen großer Opfer fähig.«
Die von den Lexikonschreibern angesprochene Opferbereitschaft sollte viele Jahrzehnte später auf eine harte Probe gestellt werden. Erst im Zweiten Weltkrieg und dann zu Zeiten des Kalten Krieges, als die Mauerstadt West-Berlin isoliert und allein dastand, verloren die Berliner weder Humor noch Optimismus. Egal, ob bei der Blockade von 1948/49, als die Sowjets alle Zufahrtswege zur Stadt sperrten und Berlin nur aus der Luft versorgt werden konnte, 1953 der Aufstand der Arbeiter im Ostteil der Stadt oder der Mauerbau im Jahre 1961 – egal, was das Schicksal ihnen auferlegte, immer behielten die Berliner ihren Überlebenswillen.
Bei Fontane hatte es einige Jahre gedauert, bis er mit Stolz sagen konnte, dass er Berliner sei, bis er sich vom harten Kritiker zum Fürsprecher der Stadt entwickelte. Wahrscheinlich darf man dem Dichter gar nicht böse sein, denn es braucht schon einige Zeit, bis man durch die raue Schale zum weichen Kern der Berliner durchdringt.
Und dann diese wunderbaren Leute. Jeder ein Original
Seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem Berlin zum Teil bis heute nicht verheilte Wunden davongetragen hat, dauert es ohnehin eine Weile, bis man die herbe Schönheit der Stadt erkennt. Doch die Suche lohnt sich in beiden Fällen – sowohl bei der Stadt als auch ihren Bewohnern. 1990, nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, wurde Berlin im Einigungsvertrag quasi über Nacht zur Hauptstadt des Landes, 1991 beschloss dann eine knappe Bundestagsmehrheit, dass auch der Parlaments- und Regierungssitz nach Berlin verlegt werden solle, und im Sommer 1999 wurde dieser Beschluss dann vollzogen.
Die Moneten sind knapp, heute ebenso wie zu Fontanes Zeiten, Berlin ist hoch verschuldet. Aber Geld ist schließlich nicht alles. Trotz des Schuldenberges zweifelt kaum jemand an, dass Berlin eine würdige Hauptstadt ist. Weltläufig und weltstädtisch gibt man sich, und mit der ihnen eigenen Toleranz haben die Berliner einen großen Anteil daran, dass ihre Heimatstadt viel mehr ist als nur die größte aller deutschen Städte. Multikulti ist nicht umsonst ein Wort, das man immer mit Berlin in Verbindung bringt. Insgesamt leben etwa 780 000 ausländische Bürger aus 190 Staaten in Berlin.
Da bleibt zu hoffen, dass die heutigen Berlinbesucher schneller zu einem positiveren Urteil über die Stadt kommen als einst Fontane. Denn immerhin mussten 16 Jahre vergehen, bevor er seine Aussage »… der Durchschnitts-Berliner ist unausstehlich …; er ist immer laut, eitel und zudringlich« in die folgende Lobeshymne verwandelte: »Und dann diese wunderbaren Leute. Jeder ein Original, die vermickerten, die wie Kranke aussehen, ebenso wie die forschen und stattlichen.«
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer BERLIN KURZTRIP von Susanne Kilimann, Rasso Knoller und Christian Nowak.
BERLIN KURZTRIP
4., aktualisierte Auflage 2023
216 Seiten
ISBN 978-3-89794-630-9
14,95 €
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