Die Arme der Gera und der Gera-Flutgraben prägen Erfurts Gesicht. Dieses Gesicht hat bekannte Züge wie die Krämerbrücke. Aber es gibt noch zahlreiche weitere Brücken und Stege, die Blicke auf Inselchen, Ufermauern, Pavillons, Terrassen und Balkone gestatten. Verschwiegene Gärtchen und herabhängende Zweige alter Bäume, Mühlen und Uferstraßen, Parks und Wege am Wasser gibt es hier zu entdecken.
Walkstrom
Nachdem der Walkstrom heimlich einen knappen Kilometer durch eine gründerzeitliche Villenidylle getrödelt ist, tritt er südlich vom Brühler Garten wieder deutlich zutage. Er unterquert effektvoll die innere Mauer der Stadtbefestigung, passiert eine alte Dampfbadeanstalt, fließt am Herrmannsplatz, ehemals Rossmarkt, unter der 1750 erbauten Roßbrücke hindurch und versucht dann erfolgreich, am Fischersand alle Blicke auf sich zu ziehen. Der Fischersand mit seiner historischen Uferbebauung, seinen Stegen, der alten Brunnenkirche, den Fischreihern und gelegentlichen Durchblicken zum Domberg gehört zweifellos zu Erfurts malerischsten Eckchen.
Dort, wo der Fischersand an der alten Sackpfeifenmühle auf die Lange Brücke stößt, geht es etwas turbulenter zu, die beliebten Läden, Cafés und Restaurants und die Nähe zum Domberg machen sich bemerkbar. Die Lange Brücke ist eigentlich ein ganzer Straßenzug zwischen Regierungsstraße und Großer Arche; die zwei Brücken in der Mitte überspannen Bergstrom und Walkstrom, die sich wenige hundert Meter weiter flussabwärts zum Breitstrom vereinigen. Vorerst aber verliert man sie aus den Augen, sie ziehen sich in die Privatheit der Hintergärtchen zurück und tauchen erst zwischen Predigerkirche und Barfüßerkirche wieder auf. Links und rechts von einem schmalen baumbestandenen Inselchen fremdeln sie noch etwas herum und lassen dann ihre Wasser wieder zusammenfließen.
Breitstrom
Breitstrom? Alles ist relativ. Er ist nur 20 bis 30 Meter breit, aber im Vergleich zur bachgleichen Dimension von Bergstrom und Walkstrom ist das viel. Am Fuße der Ruine der Barfüßerkirche. trieb er früher die Neue Mühle an, bis 1982 wurde hier noch Mehl und Futterschrot gemahlen. Seit den 1990ern beherbergt die Mühle ein sehr anschauliches Mühlenmuseum, das leider schon viel zu lange und auf unbestimmte Zeit wegen baulicher Schäden geschlossen ist. Die sechsbogige Brücke unterhalb der Mühle wird Schlösserbrücke genannt, weil die Schlösserstraße über sie verläuft.
Über den Junkersand und die Kürschnergasse geht es weiter am Breitstrom entlang, vorbei an den Wohnhäusern der Familie Bach am Junkersand 1–3, deren Angehörige seit dem 17. Jahrhundert über 250 Jahre als Organisten und Stadtmusikanten in Erfurt gewirkt hatten.
Die Kürschnergasse legt mit ihrem Namen Zeugnis ab von der Zunft der Kürschner, deren Angehörige ab dem 13. Jahrhundert an der Gera ihre Werkstätten errichtet hatten, um mit dem Flusswasser die Felle zu reinigen und die Häute zu gerben. Der Geruch von damals würde die nun auf den Flussterrassen sitzenden Gäste der netten Restaurants empfindlich stören … Man erreicht den Wenigemarkt und die Rathausbrücke und dann, endlich, erblickt man die legendäre Krämerbrücke. Von der Rathausbrücke aus kann man gut die gesamte Konstruktion aus sechs Gewölbebögen überschauen, von denen drei die Arme der Gera überspannen, zwei für Hochwasser ausgelegt sind und einer als Landbogen der Statik dient.
Von Erfurts vier mittelalterlichen Fahrbrücken über die Gera – Langer Brücke, Schlösserbrücke, Krämerbrücke und Lehmannsbrücke – ist nur die Krämerbrücke mit ihren steinernen Gewölben aus dem Jahre 1325 als originales Bauwerk erhalten geblieben. Die anderen wurden im Laufe der Zeit durch Konstruktionen ersetzt, die dem modernen Verkehr standhalten können.
Dämmchen
Flussabwärts von der Krämerbrücke, wo es früher auch dichte mittelalterliche Bebauung gab, wurde ein hübscher Platz mit Blick auf die Nordseite der Brückenhäuser geschaffen. Auf dem Westufer passiert man die jüdische Mikwe, auf dem Ostufer einen Spielplatz und drei Restaurants, die Wege vereinigen sich auf dem sogenannten Dämmchen, einer malerischen langgezogenen Insel zwischen beiden Flussarmen. Die Blicke gleiten über die Wasserseite der alten, liebevoll sanierten Studentenbursen aus dem 15. Jahrhundert. Auch auf der rechten Seite des Flusses grüßen akkurat sanierte Fachwerkhäuser. An der Schildchens-Mühle vorbei geht es über die Schildgasse und Comthurgasse zur Lehmannsbrücke.
Der Nikolaikirchturm, zur nicht mehr existierenden Brückenkopfkirche gehörend, die vormals den Zugang zu dieser Brücke bildete, grüßt den Spaziergänger. Nach der Überquerung der Augustinerstraße schlendert man am schattigen rechten Ufer der Gera entlang – nach Venedig.
Venedig
Abermals teilt sich die Gera am Nordrand der Altstadt in einige kleine Arme auf. Auf den Inselchen klapperten hier, direkt vor den inneren Befestigungsanlagen der Stadt, im 16. Jahrhundert sieben Mühlen an den rauschenden Bächen, erhalten ist lediglich das Wohnhaus der kleinen Petersmühle. 1666 war von einem Färberhaus Zur kleinen Venedige – von althochdeutsch venn (Sumpf) und mittelhochdeutsch dige (wachsen) – auf einer der Inseln die Rede, danach wurde das ganze Gebiet so genannt.
Ab 1998 wurden die Inseln zwischen Breitstrom und schmaler Gera schrittweise zu einer abwechslungsreichen Parkanlage umgestaltet. Durch zwei neue Brücken ist sie mit dem Andreasviertel und der Steinstraße verbunden.
Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer ERFURT von Dagmar Schreiber.
ERFURT
Mit Ausflügen nach Weimar, Gotha und Jena
2., aktualisierte Auflage 2023
264 Seiten
ISBN 978-3-89794-606-4
12,95 €
Im Trescher Verlag sind zahlreiche weitere Reiseführer zu Zielen in DEUTSCHLAND erschienen.