Katalonien

Els Castels – Menschen wachsen in den Himmel

Ein Kind erklimmt einen Menschenturm
Die oberen Etagen der Menschentürme werden von Kindern erklommen (© Sheeyla/shutterstock.com)
Keine andere Tradition ist so einzigartig und repräsentativ für die katalanische Kultur wie die 15 oder noch mehr Meter hohen menschlichen Türme. Von unten nach oben werden die Teilnehmer immer kleiner, jünger und schmächtiger. Gestandene Mannsbilder mit breiten Schultern bilden die Basis und tragen hunderte von Kilogramm auf ihrem Torso. Ganz nach oben, ins achte, neunte oder gar zehnte menschliche Stockwerk klettern unerschrockene, leichtgewichtige Grundschüler. Nach einem bislang einzigen Todessturz vor einigen Jahren müssen sie jetzt einen Helm tragen.

Einen solchen Menschenturm zu bauen, darf höchstens wenige Minuten dauern, die physischen und mentalen Kräfte der Menschen sind begrenzt und können den Gesetzen der Schwerkraft nur kürzeste Zeit trotzen. Mit nackten Füßen stehen sie auf einer fremden Schulter, ein paar Sekunden lang. Mit angehaltenem Atem sieht man Körper zittern und Türme schwanken. Dann muss der geordnete Rückbau erfolgen, sonst gilt das Castell als unvollendet. Die Anspannung bei Teilnehmern wie Zuschauern gleicht der eines Elfmeters in der Champions League. Wird das Castell – die Burg – korrekt abgebaut, fallen sich alle in die Arme. Jubel und Erleichterung verschmelzen.

Das mitreißende Spektakel ist ebenso Kulturtradition wie eine Sportart. Denn die Mannschaften – die colles – treten im freundschaftlichen Wettkampf gegeneinander an und unterwerfen sich einem ins Detail definierten Reglement. Jeder Turm hat eine eigene Architektur, bekommt eine festgelegte Zahl von Punkten und trägt eine entsprechende Benennung. Ein cinc de vuit, also ein »fünf in acht«, bedeutet, dass sich jeweils fünf Personen in acht Stockwerken stapeln.

Die geometrisch simpelste, aber in der Praxis extrem schwierige Formation ist der pilar, die Säule. Bis zu acht Einzelpersonen stehen ohne seitliche Stabilisierung auf den Schultern übereinander. Das andere Extrem bilden Gebäude mit neun oder gar zwölf Menschen pro Etage. Hier hat das Fundament das Gewicht von oft über 30 Menschen zu tragen.

Wie in anderen Mannschaftssportarten wird die Abwehr von der Öffentlichkeit wenig beachtet. Doch die Stabilität der Basis ist essentiell. Ein Ring von äußeren Stützern muss verhindern, dass sie unter dem enormen Gewicht einfach einknickt. Manche Konstruktionen benötigen einen solchen menschlichen Stützring auch noch in der ersten Etage, genannt folre.

Freundschaftlicher Wettstreit

Bislang bilden zehn Stockwerke die magische Grenze, die noch niemals überwunden werden konnte. Manche rufen nach einer Professionalisierung, um neue Höhenrekorde zu erreichen. Doch gerade die konsequente Nicht-Kommerzialisierung des Sports ist einer seiner schönsten Aspekte. Abgesehen von dem alle zwei Jahre in Tarragona ausgetragenen Großturnier finden alle Veranstaltungen kostenlos auf öffentlichen Plätzen statt. Der Wettstreit ist freundschaftlich, es gibt keine Fouls und keine Strafen.

Doch der sportliche Ehrgeiz treibt die Colles zu mindestens wöchentlichem Training. Nur mit perfekter Koordination aller Beteiligten kann in einem sehr engen Zeitfenster ein stabiler Turm auf- und wieder abgebaut werden. Jedes Team hat einen Trainer, der strategische Anweisungen gibt. Auf sein Zeichen hin setzt die traditionelle Kapelle ein, die den Bau begleitet. Die Musik orientiert die Beteiligten genau, in welcher Phase sich die Konstruktion gerade befindet. Schließlich kann jemand, der hunderte Kilo Gewicht auf den Schultern trägt, nicht mal eben nach oben schauen, um zu sehen, wie gerade der Stand der Dinge ist.

Die »Uniform« der Castellers besteht traditionell aus weißer Hose und einem Hemd in den Vereinsfarben. Eine fest gewickelte, faixa genannte Schärpe schützt den Lendenbereich und hilft den Kletterern als Griff- und Stützpunkt.

Eine jahrhundertealte Tradition

Die Ursprünge der Tradition verlieren sich im Dunkel der Geschichte, denn folkloristische Bräuche einer bäuerlichen Welt wurden nur selten schriftlich dokumentiert. Man nimmt an, dass der Ursprung in einem Volkstanz liegt, der an religiösen Feiertagen nach der Prozession stattfand. Das früheste dokumentierte Castell entstand 1770 in der Gemeinde L’Arboç. Es bestand bereits aus sechs Stockwerken, was nur nach langjähriger Praxis erreicht werden kann.

Fest steht, dass sich der Brauch in der Region um die Mittelstadt Valls nahe Tarragona entwickelt hat. Von dort breitete er sich auf ganz Katalonien aus. Inzwischen gehören der Föderation fast hundert Colles an. Meist auf Initiative von Auswanderern haben sich in den vergangen 20 Jahren Vereine von Kalifornien über Südamerika bis nach Australien gegründet. Auch in Hamburg waren die »Xiquets de l’Alster« zeitweise aktiv.

Wie in den meisten Mannschaftssportarten dominiert den Wettbewerb ein Konglomerat einiger weniger Teams. Ganz vorn stehen üblicherweise die Xiquets de Valls, die Castellers de Vilafranca und die Minyons de Terrassa.

Praktisch an jedem Wochenende des Jahres kann man irgendwo in Katalonien dem spektakulären Turmbau beiwohnen, was unbedingt zu empfehlen ist. Der Veranstaltungskalender der auch englischsprachigen Website der Föderation gibt immer aktuell Auskunft, wo Auftritte von Castellers stattfinden: www.cccc.cat

Cover Trescher-Reiseführer Katalonien

Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer KATALONIEN von Jens Wiegand.

KATALONIEN

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2., aktualisierte Auflage 2023
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