Toulouse, Albi, Carcassonne

Rugby in Okzitanien – verrückt nach dem Ei

Rugby-Partie Stade Toulousain gegen Stade Français aus Paris
Die Mannschaft von Stade Toulousain (in Schwarz) spielt gegen Stade Français aus Paris (gemeinfrei)

Im Südwesten Frankreichs hat Rugby den gleichen Stellenwert wie »König Fußball« in Deutschland. Während der beiden Halbzeiten fiebert man mit seiner Mannschaft mit, nach dem Spiel gehen alle gemeinsam zur »dritten Halbzeit« in den Bars über. Randale zwischen Fans oder gar Hooligans kennt man allerdings beim Rugby überhaupt nicht, es ist nach wie vor das »Spiel der Gentlemen« – in jeglicher Hinsicht. Seit 1892 wird um den Bouclier de Brennus, das Meisterschild der Top 14 genannten Liga, gespielt.

In der Regel spielen beim Rugby zwei Mannschaften mit jeweils 15 Spielern gegeneinander. Gespielt wird mit einem eiförmigen Ball, der in eine Torzone hinter dem gegnerischen Tor gelegt werden oder über eine drei Meter hohe Torlatte gekickt werden muss. Dabei darf der Ball zwar in alle Richtungen getreten, aber nicht nach vorn geworfen werden, sondern nur nach hinten oder zur Seite. Nur der balltragende Spieler darf angegriffen werden. Wird gegen eine dieser Regeln verstoßen, gibt es ein Gedränge, mêlée, bei dem die acht Stürmer eines Teams vornübergebeugt gegeneinander drängen und versuchen, in Besitz des Balls zu kommen, der vom Schiedsrichter in die Mitte geworfen wird. Schießt man aus dem Spiel heraus über das H-förmige Tor gibt es drei Punkte, hat man durch Tragen des Balles einen erfolgreichen Versuch, essai, gemacht, für den es fünf Punkte gibt, hat man die Möglichkeit zur Erhöhung durch einen erfolgreichen Schuss über die Latte, der noch einmal zwei Punkte einbringt. Landet der Ball nach einem Wurf oder Kick im Seitenaus, gibt es eine sogenannte Gasse, bei der je ein Spieler beider Mannschaften durch eine Art Räuberleiter hochkatapultiert wird, um sich den Ball zu angeln.

Das Mannschaftsspiel entstand 1823 in der englischen Stadt Rugby und kam wenige Jahre später auch nach Frankreich. Im traditionell eigensinnigen Südwesten wurde es zum Nationalsport. Fußball gilt nach Überzeugung vieler Rugby-Verfechter als Vergnügen für Memmen und Komödianten. Und Spieler wie der für Paris Saint-Germain spielende Brasilianer Neymar bestätigen sie in ihren Ansichten. Beim Rugby gibt es so gut wie keine erschummelten Siege. Spieler, die durch »Schwalben« oder Provokationen einen Vorteil für ihre Mannschaft herausschinden wollen, werden nicht nur vom Publikum, sondern auch von den eigenen Teamkameraden geächtet. Gemeinsames Trinken oder auch Essen nach dem Spiel gehört übrigens genauso zum Rugby wie körperliche Einsatzbereitschaft während des Spiels. Sinnlose Diskussionen mit dem Schiedsrichter von Seiten der Spieler gibt es ebenso wenig wie Gewalt zwischen den Fans. Stattdessen nutzen die kontaktfreudigen Okzitanier die »dritte Halbzeit«, die berühmte troisième mi-temps, in der Kneipe zum Knüpfen neuer Freundschaften und maximal zu spöttischen Frotzeleien.

»Sport für Schurken, gespielt von Gentlemen«

Neben Mut, Bescheidenheit und Gemeinsinn erfordert Rugby vor allem Leidensfähigkeit. Im Rugby müssen die Spieler Schmerzen ertragen und überwinden wie in kaum einer anderen Mannschaftssportart. Der ballführende oder eher balltragende Spieler ist in der Opferrolle. Er rennt, bis er von seinen Verfolgern zu Boden gestreckt wird oder an einer Mauer aus gegnerischen Körpern fast zerschellt. Um das kostbarste Gut, den eiförmigen Ball, in Sicherheit zu bringen, passt er das Ei zu einem seiner Mitspieler, bevor er von einem Berg an muskulösen Körpern begraben wird. Bernard Marie, der 2015 im Alter von 96 Jahren verstorbene Politiker und langjährige Rugby-Schiedsrichter, nannte Rugby treffend einen »Sport für Schurken, gespielt von Gentlemen«.

Regelverletzungen bleiben selten ungesühnt. Kommt es vor, dass der Schiedsrichter einen Regelverstoß nicht sieht, greifen die Spieler zu kollektiver Selbstjustiz. Am berüchtigtsten ist la fourchette, die Gabel, bei der im Schutze des unübersichtlichen Gedränges ein Übeltäter mit gespreizten Fingern in die Augen des Gegners sticht. Die Kompagnons des Opfers sorgen im nächstbesten Moment für »Gerechtigkeit« und rächen ihren Mitspieler. Mit dem Schlusspfiff endet die Gewalt.

In Okzitanien entwickelte sich aufgrund der bewegten Geschichte ein Selbstverständnis, der esprit de clocher, die Verbundenheit zum eigenen Kirchturm zu demonstrieren. Man verteidigt sein Dorf, seine Stadt, setzt sich für seine Nebenleute bis zur Selbstaufgabe ein. Im Rugby muss man genau das tun, und deshalb wurde das Spiel zum Nationalsport, zum Teil der Kultur Okzitaniens. Der ehemalige Nationalspieler Philippe Guillard sagte einmal treffend: »Man kann verlieren, aber wenn man verliert, dann erhobenen Hauptes.« Wie es in der Geschichte Okzitaniens schon oft passierte.

Spielbesuch

Seit 1982 trägt die Mannschaft von Stade Toulousain ihre Heimspiele im Stadion Ernest Wallon im Stadtteil Sept-Deniers aus, das nach der umfassenden Renovierung Anfang der 2000er Jahre ein Fassungsvermögen von 19 000 Zuschauern hat. Benannt wurde es nach dem ersten Präsidenten des Rugby-Clubs, der 1907 gegründet wurde. Findet ein Match im Stadion statt, setzt die städtische Verkehrsgesellschaft Tisséo sogar Gratis-Busse ein, um die Zuschauer von der Metrostation Barrière-de-Paris zum Stade Ernest Wallon zu bringen.

Adresse: 114, rue des Troènes, Tel. 0892693115. Die Ticketpreise liegen bei 20 bis 95 Euro. Information: www.stadetoulousain.fr

Cover Reiseführer Toulouse, Albi, Carcassonne

Dieser Text stammt aus dem Trescher-Reiseführer TOULOUSE, ALBI, CARCASSONNE von Heike Bentheimer.

TOULOUSE, ALBI, CARCASSONNE

Mit Katharerland, Canal du Midi und Montagne Noire

1. Auflage 2022
388 Seiten
ISBN 978-3-89794-600-2
19,95 €

 

Im Trescher Verlag sind bereits weitere Reiseführer zu FRANKREICH erschienen.