Zentralasien

Alltagskultur und Bräuche in Zentralasien

Langer Marktstand mit Fladenbroten in Osch, Kirgistan
Marktstand mit Fladenbroten im kirgisischen Osch (© Dagmar Schreiber)

Gelebte Bräuche, Spiele und Feierlichkeiten gehören zur reichen Alltagskultur der zentralasiatischen Völker. Die UNESCO hat einige dieser einzigartigen Traditionen in die Liste des Immateriellen Welterbes aufgenommen. Wir stellen einige davon vor. Auf einer Reise durch Zentralasien kann man mit ihnen Bekanntschaft machen.

Das Wissen und die Kenntnisse um den Bau der Jurte

Die Jurte ist eine genial konstruierte Behausung zentralasiatischer Reiternomaden. Ein rundes Filzzelt auf Holzgestell, im Sommer kühl, im Winter warm, in wenigen Stunden auf- oder abgebaut, von Kamelen oder Lastwagen bequem zu transportieren zum nächsten Dzhailoo. In den 1930er Jahren wurde sie von sowjetischen Ideologen verfemt als Relikt einer mittelalterlichen Lebensweise. Der »Fortschritt« verlangte nach »richtigen Häusern«, die Jurten mussten weg, eine Ära schien zu Ende.

Und doch feierte die Jurte nach dem Ende der Sowjetunion ihre Auferstehung. In Kirgistan, aber auch in Turkmenistan und Kasachstan wird sie wieder hergestellt. Schaf- oder Kamelwolle wird zu großen Flächen gefilzt, die flexiblen Holzgestelle werden wieder gefertigt. Beide Handwerke wurden sozusagen im letzten Moment vor dem Aussterben gerettet, als nur noch ganz wenige der alten Meister lebten. Eine alte Tradition und Lebensweise wurde bewahrt und eine wachsende Anzahl von Touristen glücklich gemacht – denn Jurten-Urlaub steht ganz hoch im Kurs.

Das Backen und Teilen des Fladenbrotes

Backen fast ohne Brennstoff ist eine Kunst für sich, Brot aufbewahren und teilen ist es auch. Ein Fladenbrot wird vom Hausherrn persönlich feierlich in die Hand genommen und mit Bedacht in möglichst gleiche Teile gerissen bzw. gebrochen (nicht geschnitten!). Die Stücke werden vor die Gäste gelegt oder jenen in die Hand gegeben. Brot ist heilig, es wird nicht auf’s Gesicht gelegt und darf nicht herunterfallen. Brot wegschmeißen ist eine Sünde.

Das Neujahrs- und Frühlingsfest Nowruz (Nooruz, Nauryz)

Zum Zeitpunkt der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche wird von allen Völkern des mittleren Ostens und Zentralasiens Nowruz gefeiert, drei Tage lang, mit vielen alten, zum Teil noch heidnischen Fruchtbarkeitszeremonien und Bräuchen, welche die Freude über den Anbruch der warmen Jahreszeit ausdrücken, die früher auch identisch mit Neujahr war. Astronomen hatten beizeiten gelernt, diesen Tag zu bestimmen, Nowruz war das Zeichen dafür, dass man bald mit der Aussaat beginnen konnte.

Gemeinsam werden bestimmte Gerichte gekocht und gegessen, der Tisch ist besonders geschmückt, in Tadschikistan zum Beispiel mit Haft Sin, sieben Dingen, die mit »S« beginnen: Sabzi (Grünes, Weizensprossen) symbolisiert Frische, Sumanak (ein Getreidebrei) steht für Segen, Sir (Knoblauch) gibt Schutz, Sendzhed (getrocknete Mehlbeeren) symbolisieren die Saat des Lebens, Serkeh (Essig) bringt Fröhlichkeit, das Gewürz Sumach steht für den Geschmack des Lebens und Sib (der Apfel) ist auch im zentralasiatischen Kulturraum das Symbol für Gesundheit.

Das traditionelle kirgisische Reiterspiel Kok boru

Kok boru (kasachisch Kokpar, tadschikisch Buskatschi) wird in bei allen Nomadenvölkern Zentralasiens gespielt und diente früher der Ertüchtigung der Krieger. Mut, Kraft, Schnelligkeit und Wendigkeit und eine absolute Beherrschung des Reitpferdes waren für dieses Spiel wie für die zahlreichen Raubzüge und Kriege gleichermaßen wichtig. Zwei Mannschaften versuchen, sich einen Ziegenbalg abzujagen und jenen zur einer Zielmarkierung (einer Vertiefung, einem Traktorreifen o.Ä.) zu bringen und dort hineinzuwerfen – Sieger ist die Mannschaft, welche die meisten »Tore« hat. Bis heute ist Kok boru eine Art Volksfest und wird ausgerichtet, wenn es etwas Besonderes zu feiern gibt. Der Einlader stiftet einen Preis, und die Mannschaften und Zuschauer strömen voller Erwartung zusammen, um dem rasanten Spiel zuzuschauen und lautstark mitzufiebern.

Die turkmenische Musik- und Tanzzeremonie Küschdepti

Dieser berührungsfreie, sich beschleunigende Reigen- und Hopstanz nach einem festgelegten Schema, mit ganz bestimmten Ausrufen und Gesten, hat eine Tradition von über 2000 Jahren – man hat Abbildungen davon auf den Rhytonen im turkmenischen Nisa gefunden, der alten Stadt der Parther. Er wird gemeinsam getanzt, alle Altersgruppen nehmen teil. Der Kulttanz zur Anbetung Gottes um Glück entstand in vorislamischer Zeit und wird noch immer praktiziert – eine erstaunliche Kontinuität, die wohl nur in sehr abgelegenen Regionen vorkommt.

Die traditionellen kasachischen Assyk-Spiele

Vermutlich ist das Assyk-atu eines der ersten Spiele der Menschheit. Es fördert die Kommunikation, den Wettbewerbsgeist, Konzentration, Geschicklichkeit und Körperbeherrschung. Es wird mit den Gelenkknöchelchen von Schafen oder Ziegen gespielt. Eine Gruppe von Spielern (in der Regel Jungen von 4 bis 14 oder 15 Jahren) trifft sich im Freien, legt ein kleines Spielfeld fest, baut Knöchelchen nach einem bestimmten Schema auf. Dann versuchen alle der Reihe nach, mit ihren Knöchelchen die der anderen wegzukicken.

Es gibt unzählig viele Variationen. Jeder Spieler hat sein eigenes Set, er kann die Knöchelchen der anderen Spieler erobern, wenn er geschickt ist. Assyk-atu ist ein sehr demokratisches Spiel, jeder kann die Voraussetzungen dafür erwerben. Meistens sammeln die Großmütter jahrelang die beim Kochen anfallenden Knöchelchen für ihre Enkel. So ein Säckchen mit assyk ist ein begehrtes Geschenk. Die Kirgisen und Mongolen haben ähnliche Spiele.

Verschiedene Formen der verbalen Wettbewerbe

Askiya, die usbekische Kunst des Witzes und der geistigen Wendigkeit ist eine hochinteressante, gesellschaftlich geförderte Form des verbalen Schlagabtauschs, bei dem zwei oder mehrere Teilnehmer zu einem bestimmten Thema in ein Wortgefecht treten, vor vielen Zuschauern, die sich dabei köstlich amüsieren. In Usbekistan hat es die Form eines Volkssports angenommen, es finden Askiya-Festivals statt. Doch auch in allen Nachbarländern gibt es diese Form der Verbalkultur, die viel mit Improvisation zu tun hat. Diese steht in der uralten Tradition von Völkern, die keine eigene Schriftsprache hatten bzw. einen hohen Anteil an nicht Schriftkundigen.

Die kasachischen und kirgisischen Singwettbewerbe Aitys (Aitysch) stehen in der gleichen Tradition und sind auch Bestandteil des immateriellen Weltkulturerbes. Dabei improvisieren kasachische oder kirgisische Volkssänger (Aqyn) mit Bravour zu einem bestimmten Thema. Wenn man zu einer Feier im privaten Rahmen eingeladen ist, wird man staunen, wie redegewandt alle (!) Gäste sind. Es kann nicht schaden, wenn man sich als Gast ein bisschen vorbereitet, damit man auch eine kleine und rhetorisch gute Rede aus dem Ärmel ziehen kann.

Die tadschikische Tschakan-Stickerei

Überall in Tadschikistan und in den von Tadschiken bewohnten Teilen Usbekistans kann man sie sehen: Suzani (von suzan = Nadel), bestickte Tücher, die bis zu zwei mal drei oder sogar drei mal vier Meter groß sein können. Sie sind ein wesentlicher Teil der Aussteuer der Braut und werden als Wandschmuck, Tagesdecke oder Bettdecke für die Kinderwiege verwendet. Aber auch Blusen, Vorhänge, Kissen, Taschen, Kopftücher werden bestickt. Diese Kunst der Stickerei mit bunten Fäden auf Baumwoll- oder Seidenstoffen wird Tschakan (Chakan) genannt. Die Ornamente, Blumenbilder und symbolischen Darstellungen haben immer eine Bedeutung. Sie beziehen sich auf die umgebende Natur und den Kosmos und bringen Hoffnungen und Wünsche der Menschen zum Ausdruck.

Kunst der Herrscherhöfe

Neben der angewandten Alltagskunst nomadischer und sesshafter Völker gab es noch die bis zum Äußersten verfeinerte Kunst der morgenländischen Herrscherhöfe, die wir heute an den Fassaden von Samarkand, Buchara und Chiwa bewundern können,. An den Wänden und Decken der Medresen, Paläste, Mausoleen, auf den Fresken von Afrosiab und Pandzhakent, in der Kalligraphie und Miniaturmalerei auf den edlen Seidenpapieren von Samarkand. Diese Kunst trägt vornehmlich die Spuren der sesshaften persischen Kultur.

Cover Trescher-Reiseführer Zentralasien

Dieser Textauszug stammt aus dem Trescher-Reiseführer ZENTRALASIEN von Dagmar Schreiber.

ZENTRALASIEN

Auf der Seidenstraße durch Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan

 

2., aktualisierte Auflage 2023
496 Seiten
ISBN 978-3-89794-617-0

24,95 €

 

Im Trescher Verlag erscheinen auch verschiedene Reiseführer zu den einzelnen Ländern ZENTRALASIENS.